Hörbeispiel 1: Zigeuner und Edelleute, Bd. 1, S.53ff.
„Die scharfsinnigen Leserinnen – aus schuldiger Galanterie sagen wir nicht Leser – werden es allemach zu ahnen beginnen, daß wir sie nicht gerade in die fashionabelste Gesellschaft gebracht haben. Wir beeilen uns daher, ihren sehr natürlichen Widerwillen wo möglich durch ein Ingredienz von Romantik zu mindern, indem wir ehrlich gestehen, daß es jenes rätselhafte, einst in allen drei Theilen der bekannten Welt zerstreute Volk der Zigeuner ist, welches uns hier Einige seiner Stammesangehörigen vor Augen stellt. Bekanntlich, aber unbekanntlich, machten die Zigeuner sich zuerst im Anfange des funfzehnten Jahrhunderts in Deutschland bemerkbar. Sie waren ihrer eigenen Aussage nach ägyptische Christen, die, um der Sünde ihrer Vorfahren willen, welche dem Erlöser mit seinen Eltern auf der Flucht die Aufnahme verweigerten, zu einem Wallfahrt- oder Irrleben verdammt wurden. Es gab eine Zeit, wo sie durch diese Fabel, nach welcher sie als fromme Büßende erschienen, einen solchen Ruf der Heiligkeit um sich verbreiten mußten, daß sie selbst vom Kaiser Sigismund und anderen Fürsten öffentliche Schutz- und Freibriefe erhielten, welche ihnen überall Aufnahme und eine gütliche Behandlung sicherten. In Wahrheit hatten sie aber gar keine bestimmte nationale Religion, sondern bekannten sich nach dem einstimmigen Urtheil aller älterer wie neuerer Schriftsteller in dem Lande ihres jedesmaligen Aufenthalts zur herrschenden Kirche. Sie waren nach Umständen Türken, Juden oder Christen, wodurch bei den Wallachen in Siebenbürgen das derbe Sprichwort entstand: die Kirche der Zigeuner sei aus Speck gebaut, und von den Hunden gefressen worden. Ihre Nahrungszweige bestanden auf den Wanderzügen in Schmiedearbeiten, Viehcuren, Wahrsagen, vorzugsweise aber im Rauben und Stehlen. Bei ihren Arbeiten bewiesen sie, ungeachtet der schlechten Werkzeuge, außerordentlich viel Geschicklichkeit, wie es ihnen denn überhaupt, namentlich für Musik, nicht an natürlichen Anlagen fehlte. Ja das letztere Talent cultivierten sie oft in einem solchen Grade, daß sie in Capellen gräflicher Personen aufgestellt, und als Meister bewundert wurden.“
In seinem zweibändigen Roman Zigeuner und Edelleute (Bd. I, Bd. II) aus dem Jahr 1844 beschrieb August Theodor Woeniger heitere Gesellschaften, geistreiche Konversationen und schöne Ausflüge durch die aufsteigende Metropole Berlin. Die Idylle wurde jedoch immer öfter durch ‚Kreaturen‘ gestört, um die zwar jeder wusste, die aber einfach nicht dazugehörten: ‚Zigeuner‘. Schon allein der Titel des Romans deutet darauf hin, dass es sich um zwei parallele Gesellschaften handelte, die nichts miteinander zu tun hatten. Das Kulturvolk (die Edelleute) amüsierten sich höchstens über das Naturvolk (die ‚Zigeuner‘) und akzeptierten sie als unterhaltsame Abwechslung oder sogar Attraktion.
Hörbeispiel 2: Zigeuner – und was wir mit ihnen in Berlin erlebten, S.5
„Das sogenannte Afrikanische Viertel im Norden Berlins war vor 25 Jahren noch freies Gelände bis hin zur Jungfernheide. Dort standen einige Wohnwagen und kleine verfallene Häuser, in denen Zigeuner wohnten vom Stamm der Romanos. Sie trieben Pferdehandel, der damals noch etwas mehr einbrachte als zu heutiger Zeit. Die Frauen gingen in die Stadt zum Betteln und Wahrsagen, oder saßen rauchend auf den Stufen ihrer Wagen und sahen den spielenden Kindern zu. Berliner, die vorübergingen, blieben wohl manchmal stehen und sahen dem Treiben zu, ließen sich auch wahrsagen, lachten, gingen weiter und hatten wieder neuen Unterhaltungsstoff.“
Nicht nur in Berlin, sondern auch in anderen Städten und Ländern wie in Ungarn oder Bulgarien war das Beobachten von ‚Zigeunern‘ eine Freizeitbeschäftigung. Für die gebildeten Bürger waren die ‚Kreaturen‘, die den ‚Stämmen‘, ‚Horden‘, ‚Sippen‘ oder ‚Banden‘ angehörten entweder tragisches Symbol des Verschwindens des Ursprünglichen oder kriminelle Subjekte, deren Verschwinden die typische Folge ihrer eigenen menschlichen Degeneration war.
Die literarische Figur des ‚Zigeuners‘ wurde im Laufe des 19. Jahrhunderts bis in die Zeit des Nationalsozialismus von einer romantisierten Vagabundengestalt zu einem parasitären Subjekt entwickelt. In fast allen europäischen Ländern fanden Leserinnen und Leser eigensinnige Darstellungen von hoher literarischer Qualität, Komplexität und Bedeutung, die Eingang in das kulturelle Gedächtnis fanden. Durch ständige Wiederholungen und Bestätigungen von Klischees festigten sich (teilweise bis heute existierende) Stereotypen: von der anfänglichen Trivialisierung des romantischen Zigeunerbildes über die folkloristische Zigeunerromantik bis zum rassistischen Denken im Dritten Reich. Der Mensch verschwand hinter dem Kollektivbegriff der ‚Zigeuner‘ mit all den Attributen und Dichotomien, die die Literatur zu bieten hatte.
Das wachsende Berlin des 19. Und 20. Jahrhunderts wurde zum Schauplatz vieler dieser Geschichten. Egal, ob in Preußen, dem Deutschen Reich, der Weimarer Republik oder dem Dritten Reich – Sinti und Roma bzw. ‚Zigeuner‘ waren stets das Kollektiv, das nicht zur Bevölkerung gehörte, obwohl sie schon seit Jahrhunderten ein Teil dieser Stadt waren.
Die unbekannten Fremden – Zwischen Folklore und Bedrohung
Obwohl schon seit Jahrhunderten mitten in Europa, schienen Vielen Sinti und Roma immer noch fremd und bedrohlich. Die Distanz, die zu ihnen aufgebaut wurde, bot Raum für Vorurteile und die Etablierung eines dichotomen Bildes, irgendwo zwischen Faszination und Verachtung. Mit diesem Bild wurde in der Literatur gespielt: Entweder waren ‚Zigeuner‘ Abschaum jenseits der Menschlichkeitsgrenze, ein Volk, das nicht nach Europa gehörte oder sie erlangten durch die romantischen Bilder dauerhafte mediale Präsenz als freie Geister, als Naturvolk, das sich nicht den Konventionen des Kulturvolkes anpassen konnte und wollte. Bestimmte Eigenschaften und Werte des Bürgertums schienen unvereinbar mit denen der ‚Zigeuner‘. Sie lebten mitten in einer Zivilisation, aus der sie (un)bewusst ausgeschlossen wurden und in der ihnen täglich gezeigt wurde, was bzw. wer sie nicht sind.
Hörbeispiel 3: Zigeuner – Und was wir mit ihnen in Berlin erlebten, S.6
„Nach einiger Zeit nämlich, als ich einmal mit Muschurka etwas abseits vom Lagerfeuer saß, wo die Frauen kochten, sagte er leise zu mir: „Barnischä (das war mein Zigeunername und heißt auf Deutsch „weißes Mädchen“), ich hab‘ viel, viel Sünde, ich will Ihnen sagen, was für Sünde ich tu‘, ich lüg‘ soviel“. „Aber Muschurka, wenn du weißt, daß es Sünde ist, warum tust du es denn immer, das ist doppelt schlimm.“ „Das hab‘ ich mir ja vom lieben Gott vorbehalten, lügen muß ich.“ „Aber nie und nie hat Gott dazu ja gesagt.“ Da fuhr der Mann in die Höhe, schlug mit der Faust auf sein Knie und sagte aus vollster Ueberzeugung: „Ich muß lügen, wenn ich mit den Pferden gehe, ich kann ja sonst nicht leben mit meiner Familie.“ Dann fügte er, wieder leiser werdend, hinzu: „Ich bete jeden Morgen: Lieber Gott, nimm du mir das nicht übel, aber ich muß heut‘ wieder schwindeln, damit ich mit meiner Familie leben kann, und abends bete ich: Verzeih‘ mir, lieber Gott, daß ich heut‘ wieder so gelogen und betrogen hab‘.“
Bei den Frauen war es ebenso. Eines Tages las ich der alten Tscheia die Stelle aus 3. Mose 20, 27: „Wenn ein Mann oder Weib ein Wahrsager oder Zeichendeuter sein wird, die sollen des Todes sterben; man soll sie steinigen, ihr Blut sei auf ihnen.“ Ganz entsetzt sah sie mich an: „Barnischä, ist das wahr, ganz bestimmt?“ „Ja,“ sagte ich „das steht in dem heiligen Buch, das hat Gott gesagt; hast du das noch nicht gewußt, daß Wahrsagen Sünde ist?“ „Nein, wahrhaftig nein, mein Lebtag hat mir das noch nie einer gesagt.“ „Na, Tscheia, wenn ihr wahrsagt, dann lügt ihr doch immer, und wenn du jetzt wieder auf die Reise gehst, willst du sicher wieder wahrsagen, und du wirst dir vom Felde stehlen, was du kriegen kannst, und wirst dir heimlich Hühner holen. Und hier in meinem heiligen Buche steht: Du sollst nicht lügen, und du sollst nicht stehlen; das hat Gott gesagt, der heilige Gott, der alles sieht, was du tust, und alles hört.“ Tscheia sah mich angstvoll an. „Ich muß immer stehlen, Barnischä,“ sagte sie leise, „aber ich werde jetzt immer sagen: Lieber Gott, sieh nicht her, ich muß das jetzt nehmen.“
Ursache für ihre verbrecherischen Triebe seien das vollständige Fehlen jeglicher Moralvorstellungen und Rationalität, das Fehlen einer Schriftkultur, das Nomadenleben und die Stagnation in der Entwicklung der Gesellschaft der ‚Zigeuner‘ gewesen. So kam es nicht selten vor, dass sie wie abscheuliche, ekelhafte und bedrohliche Kreaturen wahrgenommen und beschrieben wurden, denen man im günstigsten Fall ihre Ursprünglichkeit und Natürlichkeit zugestand. Selbst mit diesen ‚Zugeständnissen‘ war es aber ausgeschlossen, dass ‚Zigeuner‘ auf nützliche Art und Weise als selbstbestimmte und verantwortungsbewusste Individuen an der bürgerlichen Gesellschaft im 19. Und 20. Jahrhundert teilhaben konnten. Der Subjektstatus der Menschen der Romvölker war Grund genug, sie aus der Gesellschaft auszugrenzen, sie aber gleichzeitig mittels kultureller Repräsentation von Literatur, Malerei und Musik zu vereinnahmen.
Motiv: Zigeuner
Wie im alltäglichen Leben, nahmen ‚Zigeuner‘ auch in der Literatur Nebenrollen als Betrüger, Diebe oder Räuber ein und zeigten damit eine der bürgerlichen Gesellschaft ferne Lebensweise auf. Das Interesse am Archaischen, am Mythologischen, Magischen, Geheimen und Unheimlichen weckte Ängste und Wünsche der Leserschaft und zeigte anhand der ursprünglichen ‚Kreaturen‘, wie weit der bürgerliche, ‚höher entwickelte‘ Teil der Menschheit gekommen war. Dieser Teil grenzte sich ab bzw. wurde in Romanen ganz bewusst als Erfolg im Vergleich zu dem armen, verelendeten und ‚abstoßenden‘ Teil gepriesen. Auf diese Weise wurde die Unvereinbarkeit der Lebensweise der Romvölker mit denen der Berliner bzw. europäischen Bevölkerung verdeutlicht.
Hörbeispiel 4: Zigeuner und Edelleute, S.46ff.
„Man brauchte nur ein sehr bescheidener Menschenkenner, vielleicht blos Kleiderkenner zu sein, um es wahrzunehmern, daß die Anwesenden [Anm. d. Aut.: Zigeunermusiker] nicht zur Gewöhnlichkeit der Berliner Straßenbevölkerung zu zählen seien. Es waren kräftige, verwegene Gestalten, denen man es wohl ansah, daß sie mit Wind und Wetter viel Bekanntschaft gemacht. Zu ihrer Sprache kündigte sich ein ausländischer, mit Fremdworten gemischter Accent, wiewohl man zugeben mußte, daß sie das Deutsch so fließend behandelten, wie andere Eingeborene. Dichte Bärte umhüllten die ausdrucksvollen Augen, deren braunes Colorit mit kleinen schwarzfunkelnden Augen und den gebogenen Nasen orientalische Gluth verrieth. Auf den Körpern trugen sie Bedeckungen, unter welchen das dunkle Haar lang und schlicht um die muskulösen Hälse hing. Auffallender jedoch und sonderbarer, als alles dies, erschien die eigentliche Körperbekleidung. Das große Princip allen Lebens, „Einheit,“ war in diesen zusammengewürfelten Toiletten zu einer bedeutungslosen Nichtigkeit herabgesunken. Es schien fast, als wären die Ehrenmänner in Adamitischer Verfassung durch ein Trödlermagazin gestürzt, und sei dabei stets das nächste, das beste Kleidungsstück mitleidig der Blöße zugeflogen, um im bunten Wechsel nur die Nothdurft zu decken. Man hätte sie auch für entsprungene Schauspieler halten können, denen in der Zerstreuung verschiedene Garderobestücke des Direktors gefolgt waren, oder für anachronistische Ueberbleibsel aus der alten Volksbelustigung eines Mummenschanzes. Kurz, man hätte alles mögliche aus diesem buntscheckigen Chaos heraus conjecturiren mögen, und wäre doch vielleicht nicht zur Wahrheit gelangt.“
Das Naturleben, die natürliche Verbindung der ‚Zigeuner‘ mit ihrer Umwelt, wurde vor allem in romantischen Darstellungen als Motiv verwendet. In der modernen Gesellschaft um die Jahrhundertwende herum ersehnten und identifizierten sich viele Künstler mit dem Zigeunerleben bzw. mit dem, was sie dafür hielten. Die ‚Bohemians‘ betrachteten ‚Zigeuner‘ als das Authentische, das der bürgerlichen Gesellschaft gegenüberstand und verstärkten durch ihre Schriften die eingängigen Bilder des ‚Andersseins‘.
Hörbeispiel 5: Zigeuner der Großstadt, S.73ff.
„Wie kommst Du auf die Idee zu dem Bilde?“
Wie ich dazu kam? Nun, auf dem natürlichsten Wege von der Welt. Es war durchaus keine plötzliche Inspiration, es ist das, was ich jetzt sehr oft und sehr viel bedenke: daß es nämlich Zeit sei für unseren Jahrgang, solide zu werden, die Bummeljahre hinter sich zu werfen und aus dem buntfrohen Lande der bohémiens hinüberzusteuern in die artige seßhafte Bürgerlichkeit – man könnte sonst den Anschluß versäumen.“
„Nun, und was wäre da weiter?“ sagte Gunnar nachlässig. Warf sich der Länge nach auf den Diwan und blies den Rauch in die Luft.
„Was da wäre – alles! das Zigeunertum mag eine unschädliche, für viele sogar notwendige Vorstufe zur Künstlerschaft sein – ihr Inbegriff ist sie nie, und wer darin stecken bleibt, der mag vielleicht hie und da einen genialen Wurf in seiner Kunst thun, aber ein tiefer, wahrer Künstler wird er nicht werden. Die äußere Unruhe, das gewissermaßen Provisorische seiner Existenz wird er auch in seine Werke hineintragen, ganz unwillkürlich – wenn er nicht überhaupt zum Handwerker wird.“
„Er will heiraten!“ warf Gunnar trocken ein.
„Vielleicht auch das,“ lachte Linsky ein wenig verlegen und trank heftig sein Glas aus – „ich glaube nicht, daß das Glück eines Heimes dem Künstler schadet –„
„Im Gegenteil,“ rief der Musiker – „wenn es echt ist, wird es heben und fördern. Das Künstlertum liegt doch nicht ausschließlich in den Bildern oder Liedern oder Geschichten, die einer macht, oft liegt seine Künstlerschaft sogar weit mehr in seiner ganzen Persönlichkeit. Und diese Persönlichkeit kann sich nur herausbilden, in ihren feinen und edlen Zügen herausbilden, wenn ihn der rohe Kleinkram und die gefährliche Nonchalance des Zigeunertums nicht mehr täglich aus dem Geleise pufft –„
Das Motiv der Sexualität, vor allem die Verführung von (bürgerlichen Männern) durch die junge, exotische (nicht unbedingt schöne) ‚Zigeunerfrau‘, war in vielen Erzählungen ein beliebtes Medium, um weibliche Erotik und Sexualität zu thematisieren – neben unehelichen Schwangerschaften, Ehebruch, Homosexualität, Blutschande, Prostitution etc. eines der Tabuthemen, das am Beispiel körperlicher, wollüstiger und schamloser ‚Zigeunerinnen‘- Figuren abgearbeitet wurde. Die vermeintlich frühe Geschlechtsreife wurde außerdem als ‚Symptom‘ einer unterentwickelten Gesellschaft betrachtet und hat dazu geführt, dass die ‚triebgesteuerten‘ Mädchen in den Romanen kaum älter als 16 Jahre waren.
Hörbeispiel 6: Zigeuner und Edelleute, S.13 – 16
„Die Sängerin war jedenfalls – auch für den, der sich nicht männlich bekannte – die interessanteste Erscheinung. Man konnte streiten, ob sie eine regelmäßige Schönheit sei, aber durchaus nicht, daß Mutter Natur ihr alles das verliehen habe, was auf den ersten Blick die Aufmerksamkeit des Beschauers fesselt. Die Figur war klein, jedoch ebenso üppig in all ihren Formen, als anmuthig in den Bewegungen. Aus den lebhaften braunen Augen blitzte ein Feuer, dessen Gluth durch einen sanften Zug um den kleinen Mund und die blendenen Zähne kaum gemildert ward. Entschlossenheit und Festigkeit bezeichneten jede Bewegung, während die etwas vorspringende Stirn nach Gall’s Schädellehre auf Witz und Verstand gedeutet hätte. Ob ihr stets des Lebens Mai geblüht hatte? Wer wollte es entscheiden! Das jugendliche Antlitz mit seinen fein geformten Wangen und dem zarten Kinngrübchen deutete kaum auf sechzehn Sommer. […] Ihr eigentlicher Reiz mußte in etwas Geistigem, in einer lustigen […] Keckheit gesucht werden, die ihre ganz äußere Erscheinung umgab. Diese Keckheit war nicht Unverschämtheit, wie sonst häufig, auch nicht Einfältigkeit, die sich der Verhältnisse unbewusst bleibt, sondern sie war frisches Blut, das sich auf einem instinctmäßigen Bewußtsein der Sittlichkeit stützte, welcher selbst die bloße Existenz des Lasters fern lag. Solche Erscheinungen sind heute selten, wo sie sich aber finden, da liegt gerade in ihrer Unschuld gegen jede Verlockung ein Damm, dessen absolute Unnahbarkeit sein süßester Liebeszauber ist.“
Nicht nur das Spiel mit der Sexualität und der Verführung, sondern auch für allgemeine und gesellschaftliche Fehlentwicklungen wurden ‚Zigeuner‘, wie auch andere Randgruppen, verantwortlich gemacht. Das Motiv des ‚Sündenbockes‘, das oft in historischen Räuber-, Ritter- und Schauerromanen vorkam, diente dazu, Probleme wie Familienrivalitäten, Identitätsverlust oder fehlende Sicherheiten in der Lebensplanung zu behandeln. Hinzu kam die Heimatlosigkeit des Naturvolkes, die gerade den Menschen in einem Staat wie Preußen und damit auch in der Hauptstadt Berlin fremd und unnormal vorkam. Die Triebausstattung der Frauen und Männer setze vermeintlich kriminelle Energien frei und ließ sie für die bürgerliche Gesellschaft Berlins wie geborene Asoziale erscheinen, die ausschließlich ihren Urinstinkten folgten.
Die Motive, die trotz der Faszination am ‚Subjekt‘ am Ende fast immer negativ konnotiert waren, konnten bei der Leserin oder dem Leser zum Ekel und Abscheu vor den ‚fremden‘ Nachbarn führen. Daraus entwickelten sich um die Jahrhundertwende herum Vermischungsängste, deren Ausmaß mit den Nationalsozialisten im Dritten Reich seinen Höhepunkt erreichte. Die Bilder des exotischen, nichteuropäischen Kollektivs förderten die Bildung von Klischees und Stereotypen und stigmatisierten die oder den Einzelnen, deren oder dessen Würde und Leistungen kaum anerkannt und niemals auf der gleichen Stufe mit denen der ‚wahren‘ Europäer gestanden hätten. Ethnologische Untersuchungen, die am Anfang aus Interesse an einem archaischen Naturvolk durchgeführt wurden, entwickelten sich zunehmend zu rassistischen Überlegungen. Mittels der ‚Wissenschaft‘ sollten Methoden entstehen, die die Inferiorität der Romvölker, aber auch anderen Randgruppen wie den Juden bewiesen und eine rechtliche und juristische Grundlage für zukünftiges Vorgehen gegen diese Völker schafften. Theorien und Spekulationen über Rassen, Vererbung und Degeneration verbreiteten sich und gewannen zunehmend an Anerkennung. Die Gefahr der Vermischung der Rassen und die Bastardisierung der Nachkommen waren in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zur größten Angst gegenüber den ‚Zigeunern‘ geworden. Die Faszination, die ihre Ursprünglichkeit und natürliche Lebensweise noch im 19. Jahrhundert auslösten, wich nun den durchweg negativen Assoziationen mit den Romvölkern und verschärfte Verachtung und Entwertung der Angehörigen in Europa – mit Deutschland als Zentrum. Im Dritten Reich schien nun allein der Versuch, Sinti und Roma zu assimilieren bzw. zu integrieren nicht mehr denkbar.
Hörbeispiel 7: Zigeuner – Und was wir mit ihnen in Berlin erlebten, S.15f.
„Die polizeiliche Reichsstelle zur Bekämpfung des Zigeunerwesens, welche ihren Sitz in München hatte [Anm. d. Aut.: ab 1938 in Berlin], prüfte in wohlwollender Art die vorgelegten Papiere unserer Freunde und stellte dann kopfschüttelnd fest, daß sie zum Theil nicht einmal echt waren, und daß gerade die Heimatscheine fehlten, welche für die Ansiedlung die Voraussetzungen waren. Die behördliche Anweisung ging nämlich dahin, die Zigeuner ständig im Wanderzuge zu halten, damit sie möglichst wenig ortzugehörig würden und nicht die Unterhaltungspflicht der betreffenden Ortschaften in Anspruch nehmen sollten.
Berliner ‚Zigeuner‘ in der Literatur: ein Randphänomen der bürgerlichen Mehrheitsgesellschaft?
Die Figur des ‚Zigeuners‘ in der Literatur zwischen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und dem Beginn des Dritten Reiches stellte die Antithese zur bürgerlichen Gesellschaft dar. Die Berliner Literatur zeigt die künstliche Trennung zwischen Natur- und Kulturvolk besonders eindrücklich auf, denn obwohl ‚Zigeuner‘ schon seit Jahrhunderten zur Stadt gehörten und ein Teil von ihr geworden waren, waren sie – bis heute – ein Randvolk geblieben. Die Hauptstadt Preußens und des Deutschen Reiches, die alternative, aufsteigende Metropole der Weimarer Republik Berlin verfehlte es, so weltoffen und liberal zu werden, dass auch die Schwächsten der Gesellschaft in diese integriert werden. Wo das endete wird an den Zahlen derjenigen deutlich, die ihr Leben in den unzähligen Konzentrationslagern des Dritten Reiches ließen.
‚Zigeuner‘ dienten in der Literatur in diesen knapp hundert Jahren vor allem als gesellschaftlicher Spiegel dafür, was sie von den ‚Edelleuten‘ unterschied. Den Leserinnen und Lesern wurde gezeigt, wie weit das Kulturvolk gekommen war und woher es vor langer Zeit selbst kam. Nützlich waren Sinti und Roma allenfalls noch als Forschungsobjekte oder schützenswerte Raritäten, die ihre ursprüngliche Lebensweise bis ins 20. Jahrhundert übernommen haben sollen. Dafür verzichteten Autorinnen und Autoren (meistens) auf empirische Untersuchungen und begnügten sich mit Vermutungen über kollektive Befindlichkeiten und ‚Triebe‘. Wegen dieser Vermutungen und der Abarbeitung von Tabuthemen am Beispiel der Romvölker in der Literatur waren Klischees und Stereotypen entstanden, die bis heute in Gebrauch sind – und die die Betroffenen absichtlich an den Rand der Gesellschaft drängen.
Literatur
- Klaus-Michael Bogdal: Europa erfindet die Zigeuner. Eine Geschichte von Faszination und Verachtung. 4. Aufl. Berlin 2014.
- Hans Richard Brittnacher: Leben auf der Grenze. Klischee und Faszination des
Zigeunerbildes in Literatur und Kunst. Göttingen 2012. - Ulla von Eck: Zigeuner der Großstadt. Berlin 1895.
- Stefani Kugler: Kunst-Zigeuner. Konstruktion des „Zigeuners“ in der deutschen Literatur der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Trier 2004.
- Maria Michalsky-Knak: Zigeuner – und was wir mit ihnen in Berlin erlebten. Berlin 1935.
- Oskar Wagner: Berliner Zigeuner. Eine wahre Erzählung aus dem Leben. Berlin 1903.
- Alex Wedding: Ede und Unku. Ein Roman für Jungen und Mädchen. Berlin 1931.
- August Theodor Woeniger: Zigeuner und Edelleute. 2 Bde. Berlin 1844.
- Michael Zimmermann: Zigeuner. In: Wolfgang Benz: Legenden, Lügen, Vorurteile. Ein Wörterbuch zur Zeitgeschichte. München 1994.
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