„Die Wiedergutmachungspraxis wurde für Sinti und Roma zu einer Art zweiten Verfolgung beziehungsweise zu einer Neuauflage der nationalsozialistischen Rassenideologie und zu deren behördlicher Rechtfertigung.“
Romani Rose
Nach der Verfolgung und Entrechtung, den Entbehrungen des Nationalsozialismus hatten es als ‚Zigeuner‘ verfolgte Menschen in der Bundesrepublik schwer. Gemeint ist in diesem Fall die Wiedergutmachungspraxis Westdeutschlands gegenüber den Opfern des Nationalsozialismus. Hierzu zählen u.a. die Entschädigungs- und die Wiedergutmachungsgesetze und -verfahren.
Bis in die 1960er Jahre hinein hatten die im Nationalsozialismus verfolgten ‚Zigeuner‘ keinen anerkannten Opferstatus wie beispielsweise verfolgte Juden. Die ‚Zigeuner‘ seien nicht aufgrund rassistischer Motive verfolgt worden, so der allgemeine Tenor, sondern zur Kriminalitäts- und ‚Asozialenbekämpfung‘. Auch wenn die Zigeunergesetzgebung des nationalsozialistischen Regimes mit dem ersten Gesetz des Alliierten Kontrollrates zur Aufhebung des nationalsozialistischen Rechts aufgehoben wurde, erteilte man der Wiedereingliederung der Sinti eine Absage. Die Gruppe galt nach wie vor als ‚Plage‘. Akten, die im Nationalsozialismus angelegt worden waren, benutzen Polizeibehörden auch weiterhin. Die Behörden sammelten personenbezogene Informationen nur aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit.
Entschädigung
Eine Entschädigung wurde nach den Entschädigungsgesetzen der Alliierten, der Länder und später der Bundesrepublik Deutschland nur an rassisch, politisch oder religiös Verfolgte gezahlt. Die Gründe der Verfolgung waren für die Anerkennung als Opfer des NS maßgeblich. Bis 1953 erhielten als ‚Zigeuner‘ Verfolgte zwar Entschädigungszahlungen; mit Bestimmungen im selben Jahr galten sie offiziell jedoch nicht als rassisch verfolgt. Entschädigungszahlungen bekamen die Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung für das erlebte Leid, für die körperlichen und psychischen Folgen der Verfolgung. Im Fall der ‚Zigeuner‘ wurde Antragsstellern eine Entschädigungszahlung nicht selten verweigert. Sie wurden auch von Mitarbeitern der Behörden häufig als ‚asozial‘ angesehen und kamen nur schwerlich gegen Vorurteile an. Es kam vor, dass Behörden die Angaben in Anträgen durch die Kriminalpolizei prüfen ließen, die wiederum u.a. auf Gestapo-Akten und Strafregister der NS-Zeit zurückgriff. In vielen Fällen war die Kontaktperson bei der Polizei ein ehemaliger sogenannter ‚Zigeunerspezialist‘, der auch in der NS-Zeit für den Bereich der ‚Zigeuner‘ zuständig war und womöglich ein sogenannter ‚Schreibtischtäter‘ gewesen sein könnte.
Mit einem Urteil des Bundesgerichthofes von 1956 galten nur die Verfolgungen nach dem Auschwitz-Erlass 1943 als rassische Verfolgungen. 1963 wurde dieses Urteil stückweise aufgehoben; von da an galten rassische Gründe als ‚mitursächlich‘ für die Verfolgung ab Dezember 1938 und der Anspruch auf Entschädigung nahm zu. Zu bedenken ist jedoch: Im Jahr 1963 befinden wir uns fast 20 Jahre nach Kriegsende. Wer von den Verfolgten lebte zu diesem Zeitpunkt noch? Wer hatte da noch die Kraft, den mühsamen Prozess einer Antragsstellung auf sich zu nehmen?
Wiedergutmachung
Die sogenannte ‚Wiedergutmachung‘ bezog sich auf Zahlungen, die die materiellen Verluste kompensieren sollten. Der materielle Verlust, von den immateriellen Werten ganz abgesehen, konnte damit jedoch meist nur im Ansatz beglichen werden. Die Militärregierungen, allen voran die amerikanische, erließen zwischen 1947 und 1949 Rückerstattungsgesetze. Diese fanden nach 1949 Eingang in das bundesdeutsche Recht. Zuerst wurde lediglich die Rückgabe wieder auffindbaren Besitzes dadurch geregelt; also Werte, die in andere Hände übergegangen waren. Erst ab 1957 konnte Schadensersatz für durch NS-Instanzen geraubtes Eigentum beantragt werden, dessen Verbleib nicht festzustellen war.
Wie schwierig und langwierig sich solch ein Wiedergutmachungsantrag erweisen konnte, zeigt das Beispiel von August W. Sein Wiedergutmachungsantrag ist im Landesarchiv im Bestand der Wiedergutmachungsämter Berlin archiviert. August W. gibt 1957 bei einem Notar in Minden unter Eid an, in der Zeit des Nationalsozialismus mit seinen Eltern in einer Wohnwagensiedlung im Berliner Wedding gelebt zu haben. 1936 mussten sie ihre Wagen in das Sammellager Berlin-Marzahn stellen und wurden von da an polizeilich überwacht. Die Polizei beschlagnahmte 1942 oder 1943, August W. erinnert sich nicht genau, die beiden Wagen und brachte die Familie in Baracken auf dem Gelände in Marzahn unter.
Ende 1943 wurden seine Eltern aus dem Lager verschleppt; August W. weiß nicht wohin. Nachdem er davon erfuhr, flüchtete er selbst aus dem Lager und versteckte sich bis zum Kriegsende bei einem Bekannten in Berlin. Nach Kriegsende zog er nach Minden; von seinen Eltern hatte er nie wieder etwas gehört, seine Nachforschungen brachten keine Informationen.
Mit Hilfe der eingeschalteten Rechtsanwälte füllt Herr W. das Formular „Anmeldung von rückerstattungsrechtlichen Geldansprüchen gegen das Deutsche Reich und gleichgestellte Rechtsträger“ aus, dessen Empfang am 23.10.1957 durch das „Verwaltungsamt für Innere Restitutionen“ und kurze Zeit später durch den „Haupttreuhänder für Rückerstattungsvermögen, Berlin W 30, Nürnberger Str. 53-55 –Zentralanmeldeamt“ bestätigt wird. August W. beantragt Rückerstattungen für die Wohnwagen der Familie.
Im Dezember 1958, über ein Jahr nach der Antragsstellung, wird vom Wiedergutmachungsamt West-Berlin ein Nachweis darüber gefordert, dass die Besitztümer der Familie, nachdem sie der Familie genommen worden waren, nach Berlin oder in die Bundesrepublik gelangt sind. Dieser Nachweis ist den Anwälten nicht möglich, sie können nur auf die eidesstattliche Erklärung des Herrn W. verweisen.
In einem späteren Schreiben fordert das Amt den Erbschein von August W.s Vater, um seine Erbberechtigung nachzuweisen.
Im März 1959 verlangt der Senator für Finanzen, Sondervermögen und Bauverwaltung der Stadt Berlin von August W., den vollen Umfang der entzogenen Werte aufzulisten und nachzuweisen – nach über 20 Jahren. Die Rechtsanwälte wehren auch dies ab.
In der Folge fordert das Wiedergutmachungsamt einen Nachweis ein, der bestätigt, dass August W. und sein Vater zwischen 1933 und 1945 in Berlin gemeldet waren oder ihre geschäftliche Niederlassung dort gehabt haben. August W. besaß für diese Zeit keinen eigenen Gewerbeschein – er war auf dem seines Vaters als Gehilfe eingetragen, der jedoch wiederum 1943 aus dem Lager Marzahn verschleppt worden war. Der Schein existiert nicht mehr.
Die Anwälte bitten darum, von der Forderung des Erbscheins und von der Bestätigung der Meldung abzusehen, da beides ein zu großer finanzieller Aufwand wäre.
Am 21. Mai 1962, fast fünf Jahre, nachdem der Antrag gestellt worden war, wird das Rückerstattungsverfahren an die Wiedergutmachungskammer beim Landgericht Berlin verwiesen. Plötzlich scheint es möglich, dass Herr W. 400 DM für den Wagen seines Vaters ausgezahlt bekommt. In einer Sitzung der Zivilkammer 149 werden ihm diese zugesprochen. Ob ihm für seinen Wagen noch Zahlungen zugesprochen wurden, geht aus seiner Akte jedoch nicht hervor.
Quellen- und Literaturverzeichnis
Quelle
Landesarchiv Berlin, B Rep. 025-06, Nr. 768/57
Literatur
Hockerts, Hans Günter: Wiedergutmachung in Deutschland 1945-1990. Ein Überblick, in: APuZ 25/26 2013, 63. Jg., S. 15-22.
Margalit, Gilad: Die Nachkriegsdeutschen und „ihre Zigeuner“. Die Behandlung der Sinti und Roma im Schatten von Auschwitz (Dokumente, Text, Materialien, Bd. 36), Berlin 2001
Sparing, Frank: NS-Verfolgung von „Zigeunern“ und „Wiedergutmachung“, in: APuZ 22/23 2011, 61. Jg., S. 8-15.
Winckel, Änneke: Antiziganismus. Rassismus gegen Roma und Sinti im vereinigten Deutschland, Münster 2002.
Winstel, Tobias: Vergangenheit verjährt nicht. Über Wiedergutmachung, in: APuZ 25/26 2013, 63. Jg., S. 3-8.
Zitat von Romani Rose: Rose, Romani: Bürgerrechte für Sinti und Roma. Das Buch zum Rassismus in Deutschland, hrsg. V. Zentralrat Deutscher Sinti und Roma, Heidelberg 1987, S. 46, zitiert nach. Winckel, Antiziganismus, S. 36.
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