„Schwarz wie die Tartaren“ und „leuchtender als das Sonnenlicht“ – Darstellungen von ‚Zigeunern‘ in der deutschsprachigen Literatur vom 15. bis zum frühen 19. Jahrhundert

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Erste Darstellungen

Diebold Schilling d. Ä., Amtliche Spiezer Chronik, [Public domain], via Wikimedia Commons, http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/c/c5/Spiezer_Schilling_749.jpg
Es muss ein sehr denkwürdiges Ereignis gewesen sein, das der Illustrator der Spiezer Chronik in der Mitte des 15. Jahrhunderts festhielt. Das Erstaunen in der Bevölkerung einiger europäischer Städte war wohl beträchtlich, als ab circa 1400 Gruppen fremder Menschen mit bisher unbekanntem Äußeren vor ihren Toren auftauchten. In Chroniken, die darüber berichten, schlägt sich dies in Bezeichnungen der Fremden als „seltsam“ oder „wunderlich“1 nieder. Dabei muss jedoch berücksichtigt werden, dass die wenigsten Chronisten Augenzeugen der Ankunft der als ‚Zigeuner‘ bezeichneten Menschen waren, sondern diese Ereignisse erst Jahrzehnte später schriftlich festhielten. So zum Beispiel der unbekannte Zeichner, der die zwischen 1445 und 1486 entstandene Spiezer Chronik Diebold Schillings des Älteren illustrierte und damit eine der frühesten erhaltenen bildlichen Darstellungen von ‚Zigeunern‘ schuf:

„von den swartzen getouften haiden die miteinandern gen Bernn kument“

Entgegen dieser Beschreibung sind keine Dunkelhäutigen in der Darstellung zu sehen. Stattdessen blicken dem Betrachter blonde, blasse Menschen entgegen, die durch ihre goldbesetzten, turbanähnlichen Hüte und die Krummschwerter orientalisch wirken. Nichts weist sie als ‚Zigeuner‘ aus. Der Mann im Vordergrund, der durch seinen Bart und seine Haltung als Anführer der Gruppe identifiziert werden kann, ähnelt sogar der Darstellung von Adligen in der Chronik.2

An diesem Bild wird deutlich, was sich auch für andere Berichte über ‚Zigeuner‘ desselben Zeitraumes sagen lässt: Weil dem Illustrator das Wissen und Können für die Darstellung dieser bisher unbekannten Gruppe fehlte, verwendete er Motive, die er kannte bzw. bereits erlernt hatte. Daher stellte er die Fremden als zum Christentum konvertierte Orientalen aus dem Osmanischen Reich dar.3 Ähnliches gilt auch für die schriftliche Beschreibung von ‚Zigeunern‘. Viele Chronisten versuchten, das Unbekannte in ihre eigene Vorstellungswelt einzuordnen und platzierten die Fremden in der ständischen, christlichen Ordnung des ausgehenden Mittelalters:

„Dieses Volk soll aus den Gebieten Ungarns stammen, und man sagt, es sei ausgewandert; zum Zeichen und zur Erinnerung an die Flucht des Herrn nach Ägypten, als er vor dem Angesicht des Herodes floh, der ihn suchte, um ihn zu töten […].“4

„In disem 1418. jar kamen erstlich die Zyginer/ so man nennet die Heiden […] Sie gaben für/ wie sie auß Egypten verstossen weren/ und müßten also im ellend 7. jar büß würcken. Sie hielten Christliche Ordnung/ trügen vil gold und silber/ doch darneben arme kleider.“5

Wallfahrer, Büßer und Pilger waren im Spätmittelalter keine Seltenheit. Daher wurde die nicht-sesshafte Lebensweise der ‚Zigeuner‘ nun als christlich motiviertes Handeln oder Buße erklärt.
In den frühen Zeugnissen ist also noch der Versuch zu erkennen, die ‚Zigeuner‘ in das eigene Weltbild zu integrieren. Gleichzeitig tauchen aber auch Vorwürfe auf, die sie als Außenstehende kennzeichnen und für die folgenden Jahrhunderte prägend werden6: Die ‚Zigeuner‘ wurden beschuldigt, Späher im Dienste der Türken zu sein, zu stehlen und Zauberei auszuüben.7 Der letzte Vorwurf speist sich aus ihrer vermeintlichen Herkunft aus Afrika bzw. Ägypten, das bis ins 19. Jahrhundert als Land der Magie und des geheimen Wissens galt.8 Besondere Fähigkeiten wurden ihnen auf dem Gebiet des Handlesens und Wahrsagens nachgesagt.9

Als äußerliches Kennzeichen ihrer Andersartigkeit galt den meisten Schreibern ihre schwarze Hautfarbe: Für den Chronisten Hermann Cornerus beispielweise waren die ‚Zigeuner‘ „von sehr hässlicher Gestalt, schwarz wie die Tartaren“10. Auffallend ist hier, dass schwarz anscheinend gleichbedeutend mit hässlich ist. Auch kann schwarz mit ‚böse‘ oder dem Teufel selbst in Verbindung gebracht werden.11

Im Laufe des 16. Jahrhunderts nahmen derartige negative Beschreibungen überhand. Diese abwertenden Zigeunerbilder können als Reaktion auf den Freiburger Reichstagsabschied von 1498 gesehen werden, in dem alle ‚Zigeuner‘ als Auskundschafter der christlichen Gebiete im Dienste des Osmanischen Reiches verurteilt wurden.12

Auch stellte man sich die ‚Zigeuner‘ nun nicht mehr als fremdes, aus seinem Heimatland ausgezogenes Volk vor, sondern in den Worten des Historiographen Johannes Turmair, genannt Aventinus, als „ein Gemisch und Auswurf verschiedener Völker. […] durch Diebstahl, Raub und Wahrsagen suchen sie ungestraft ganz und gar ihren Unterhalt.“13 Diese „Zigeunerkategorie“ erhielt somit eine „soziale Bestimmung“14: Das Fremde der ‚Zigeuner‘ bezieht sich nun nicht mehr auf ihre exotische Herkunft aus einem unbekannten Ursprungsland, sondern auf ihre abweichende Lebensweise.

Reformationszeit

Nachdem die ‚Zigeuner‘ kein eigenes Volk mehr darstellten, findet man sie in der Literatur als Teil der großen Gruppe der Fahrenden. Das waren gewöhnlich Bettler, Pilger, Bettelmönche, Gaukler oder Krämer. ‚Zigeuner‘ tauchen in Sprichwörtersammlungen, Fastnachtsspielen oder Lehrgedichten neben Bettlern und Dieben als Negativbeispiel auf, spielen aber selten eine größere Rolle. Indem sie auf diese Weise in die Nähe der fahrenden Bettler rückten, wurden sie mit einem weiteren Negativbild beladen, das sich im Zuge der Reformation für die umherziehenden Armen gebildet hatte: der Vorwurf der Faulheit und des Müßiggangs. In einer Sprichwörtersammlung des Jahres 1541 schreibt Sebastian Franck:

„Unser Herr Gott hat alle menschen zur arbeyt erschaffen/ und wer schlantzen und müssig gehet/ der veracht Gottes Schöpfung. Darumb soll er auch schendtlich arm sein/ also soll von Gott die faulheyt belohnet werden.“15

Armut wäre demzufolge eine Strafe Gottes für Faulheit und Bequemlichkeit. Wer arbeiten könnte, es aber bewusst unterlässt, gilt entsprechend diesem Arbeitsethos, das sich in vielen protestantischen Schriften findet, als Betrüger, Faulenzer und Schmarotzer.16

[Public domain], via Wikimedia Commons; Darstellung einer ‚Zigeunerfamilie‘ in der Cosmographia Sebastian Münsters, http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/f/fc/A_Gipsy_Family_Fac_simile_of_a_Woodcut_in_the_Cosmographie_Universelle_of_Munster_in_folio_Basle_1552.png
[Public domain], via Wikimedia Commons; Darstellung einer ‚Zigeunerfamilie‘ in der Cosmographia Sebastian Münsters

Zigeunerbild im Schelmenroman des 17. Jahrhunderts am Beispiel von Grimmelshausens ‚Courasche‘

Angelehnt an spanische Romane entstand in Deutschland nach dem Dreißigjährigen Krieg der Schelmenroman. Die Titelfigur, der Schelm, ist gleichzeitig Hauptfigur und Ich-Erzähler. Er berichtet von seinen Abenteuern in den Wirren des Krieges und nimmt dabei eine satirische oder gesellschaftskritische Perspektive ein. 1670 erschien Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausens Trutz Simplex: Oder Ausführliche und wunderseltzame Lebensbeschreibung Der Ertzbetrügerin und Landstörtzerin Courasche. Hier treten ‚Zigeuner‘ nicht nur als Randfiguren in Erscheinung, sondern die Hauptfigur Courasche wird eine von ihnen und lebt für mehrere Jahre mit einer ‚Zigeunerfamilie‘ zusammen. Nach einem bewegten Leben als Hure, Marketenderin und Landstreicherin schließt sie sich einer Gruppe von ‚Zigeunern‘ an. Grimmelshausen bedient sich der zu seiner Zeit vorherrschenden Vorstellungen von ‚Zigeunern‘, als er seine Hauptperson durch Heirat in die ‚Zigeunergesellschaft‘ eintreten lässt:

„Siehe! so wurde ich gleich sein Weib/ und hatte diesen Vortheil/ daß ich weder Oleum Talci noch ander Schmirsel mehr bedorffte/ mich weiß und schön zu machen/ weil so wohl mein Stand selbsten als mein Mann die jenige Coleur von mir erforderte/ die man des Teuffels Leibfarb nennet; Derowegen finge ich an/ mich mit Gänß-Schmaltz Läußsalbe und andern Haarferbenden Ungventen also fleissig zu beschmiren/ daß ich in kurtzer Zeit so Höll riglerisch aussahe/als wann ich mitten in Aegypten geboren worden wäre; […]

Jch lernete in kurtzer Zeit von einer alten Aegyptischen Großmutter wahrsagen; lügen und stehlen aber kunte ich zuvor/ ausser daß ich der Ziegeuner gewöhnliche Handgriff noch nicht wuste/ aber was darffs viel Wesens? Ich wurde in Kürtze so perfect/ daß ich auch vor eine Generalin aller Ziegeunerinnen häte passiren mögen.“17

Courasche färbt ihre Haut schwarz und lernt schnell das Wahrsagen. Somit erfüllt sie alle zeitgenössischen Kriterien, um als ‚Zigeunerin‘ gelten zu können. Dadurch dass Grimmelshausen das Wahrsagen als etwas auch von Außenstehenden leicht zu Erlernendes darstellt, entdämonisiert er diese scheinbar magische Fähigkeit. Auch die dunkle Hautfarbe als Farbe des Teufels entlarvt er als Fremdzuschreibung: „die man des Teuffels Leibfarb nennet“.18 Zwar begehen die ‚Zigeuner‘ auch bei Grimmelshausen die ‚typischen‘ Verbrechen wie Diebstahl und Betrug, doch stets so, dass es zur Belustigung des Lesers dient. Was die ‚Zigeuner‘ darüber hinaus von übrigen Räubern und Landstreichern unterscheidet, ist ihr Gemeinschaftsgefühl: Selbstlos nehmen sie Courasche auf und zeigen sich solidarisch. Grimmelshausen präsentiert hier also ein eher ambivalentes Zigeunerbild.19

„Wissenschaftliche“ Annäherung in der Spätaufklärung – Rüdiger und Grellmann

Gegen Ende des 18. Jahrhunderts rückten ‚Zigeuner‘ in das Blickfeld dessen, was man unter damaligen Maßstäben als ‚Wissenschaft‘ verstand. Das allgemeine Bestreben der Aufklärung, den Menschen und seine Natur mit wissenschaftlichen Mitteln und Vernunft zu erklären, spiegelte sich in der Entstehung von Forschungsdisziplinen wie der Anthropologie oder der Sprachwissenschaft. Während außereuropäische Gesellschaften entdeckt und kolonialisiert wurden, richtete sich das Interesse auch auf ‚Fremde‘ innerhalb der eigenen Gesellschaft.

Der Sprachwissenschaftler Johann Christian Christoph Rüdiger konnte in seiner Schrift aus dem Jahr 1782 Von der Sprache und Herkunft der Zigeuner aus Indien nachweisen, dass eine Verwandtschaft zwischen dem Romanes, der Sprache der Romvölker, und dem Hindustanischen bestand. Damit war die Herkunft der ‚Zigeuner‘ aus Ostindien bewiesen.
Rüdiger nimmt in seinem Aufsatz eine vergleichsweise neutrale und vorurteilsfreie Haltung ein. Auch wenn er die ‚Zigeuner‘ seiner Zeit als „verächtlicher zerstreuter Haufen garstiger Wahrsager, elender Bettler und boshafter Spitzbuben“20 sieht, so gibt er die Schuld an diesem Zustand nicht ihnen selbst, sondern den für ihre Verfolgung und Ausgrenzung Verantwortlichen:

„Statt dessen aber fieng man an, die unschuldigen, nach ihrem Naturrechte lebenden Fremdlinge als Feinde zu behandeln, wollte sie nirgends dulden, zerstreute und vertrieb sie überall. So nöthigte man sie endlich freylich, das zu werden, was sie nicht wollten, noch waren, einzeln herumziehende Räuberbanden, Wahrsager und Bettlertruppen. Der Grund dieses verkehrten Beginnens lag bloß darinn, daß man ihnen unsere Denkungsart unterschob, wovon sie doch, der Natur nach, so himmelweit entfernt seyn mußten.“21

Mit Naturrecht meint Rüdiger die Lebensform der ‚Zigeuner‘ als Nomaden. Bei ihrer Ankunft in Europa hätten sie sich mit ihrem umherziehenden Lebensstil auf einem niedrigeren Zivilisationsgrad als die bereits sesshaften Europäer befunden und wären daher mit deren bürgerlichen Recht in Konflikt geraten. Ganz im Sinne der Aufklärung plädiert er daher für eine Anerkennung der ‚Zigeuner‘ als gleichwertige Menschen und für ein Zugeständnis entsprechender Rechte, um ihnen ein Leben jenseits von Armut und das Erlernen geachteter Berufe zu ermöglichen.22

Eine gegensätzliche Position ist dagegen bei Heinrich Moritz Gottlieb Grellmann zu erkennen. Sein Werk Die Zigeuner23 wurde viel stärker rezipiert als Rüdigers Aufsatz und in späteren Auflagen sogar in Englisch, Französisch und Niederländisch veröffentlicht. Grellmann kann heute als Vorreiter des modernen Antiziganismus gelten. In rassistischer Denkweise schreibt er dem ‚Volk‘ der ‚Zigeuner‘ Charaktereigenschaften zu, die er allein aus ihrem Äußeren und ihrer Herkunft herauszulesen glaubt: „der Zigeuner hört, vermöge seines orientalischen Ursprungs und der damit verbundenen Denkart, nicht leicht auf zu sein, was er einmahl ist.“24 Die bisherige „soziale Zigeunerkategorie“ wird nun von einer neuen „ethnisch-rassistischen Konstruktion“25 überlagert. Grellmanns abwertende, beleidigende und boshafte Schilderungen der Lebensweise der ‚Zigeuner‘ ähneln der Beschreibung wilder Tiere. Der aufklärerische Gleichheitsgedanke, wie er bei Rüdiger zu finden ist, kommt hier nur insofern zum Tragen, als dass Grellmann die Forderung formuliert, die ‚Zigeuner‘ zu arbeitstätigen Bürgern zu machen:

„Vielleicht ist in unsern Tagen, wo so vieles zum Heil der Staaten und Menschheit geschiehet, auch dies vorbehalten, daß ein Volk zu Menschen gemacht werde, das seit Jahrhunderten in der Irre und Wildniß lief […] Was für ein Unterschied also würde es für jene Länder seyn, wenn eine so große Zahl von größtentheils Müßiggängern, Bettlern, Betrügern und Dieben, die jetzt ernden, wo sie nicht gesäet haben, und verzehren, was die fleißige Hand eines andern hervorgebracht hat, zu arbeitsamen und nützlichen Unterthanen gemacht würden!“26

In seiner Schrift bezieht er sich hauptsächlich auf ältere Quellen und wiederholt damit die gängigen Vorverurteilungen. Er erweitert die Bandbreite der vermeintlichen Verbrechen sogar um den Vorwurf des Kannibalismus. Eine positive Bewertung erfahren die ‚Zigeuner‘ nur dort, wo ihre mögliche ‚Nützlichkeit‘ ins Spiel kommt: Grellmann schreibt ihnen gesunde Körper und Robustheit zu, natürlich nur, um ihre Eignung als Arbeiter zu betonen.

Dieses extreme Negativbild hängt mit politischen Maßnahmen gegen ‚Zigeuner‘ zusammen. In Österreich-Ungarn gingen Maria Theresia und ihr Nachfolger Joseph II. mit strengen Regulierungen gegen ‚Zigeuner‘ vor. Dazu gehörte das Verbot einer nicht-sesshaften Lebensweise, der Sprache, von Heiraten und nicht zuletzt das Wegnehmen von Kindern. Mit seiner äußerst abwertenden Darstellung rechtfertigt und legitimiert Grellmann die brutalen Maßnahmen.27

„Zigeunerromantik“

Nicht nur Politik und Wissenschaft setzten sich verstärkt mit den ‚Zigeunern‘ auseinander. Mit Beginn des 19. Jahrhunderts wurden sie zu einem beliebten Thema von Dichtern und Schriftstellern. In der Literatur der Romantik sind ‚Zigeuner‘ nun als Hauptrollen zu finden und ihr Leben steht im Mittelpunkt zahlreicher Erzählungen. Die Romantiker, getrieben von Sehnsucht nach dem Ursprünglichen, Geheimnisvollen, Unverstellten fanden in den ‚Zigeunern‘ mit ihrer freien, umherziehenden Lebensweise und ihrem Ursprung im sagenumwobenen Orient einen Gegenpol zur streng geregelten, normierten, bürgerlichen Welt.

Alois Schönn [Public domain], via Wikimedia Commons; Lagernde Zigeuner, 1856, http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/8/83/Alois_Sch%C3%B6nn_-_Lagernde_Zigeuner_%281856%29.jpg
Alois Schönn [Public domain], via Wikimedia Commons; Lagernde Zigeuner, 1856
Dabei wurden die ‚Zigeuner‘ wieder stark idealisiert dargestellt. Ein weiterer Aspekt, der für spätere ‚Zigeunerbilder‘ bestimmend wird, wurde jetzt festgeschrieben: Die enge Verbindung von ‚Zigeunern‘ mit Tanz und Musik. Bereits in früheren Darstellungen, wie zum Beispiel in Cervantes Das Zigeunermädchen28, haben ‚ZigeunerInnen‘ eine besondere musikalische Begabung. Doch erst in der Romantik schien die ‚Zigeunermusik‘ und der Tanz der ‚Zigeuner‘ zu einem Motiv zu werden. 1831 beschrieb Victor Hugo in Der Glöckner von Notre-Dame den Auftritt der ‚Zigeunerin‘ Esmeralda:

La Esmeralda. Unbekannter Künstler, erschienen 1882 in "Victor Hugo and His Time" von Alfred Barbou [Public domain], via Wikimedia Commons. http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/2/2c/La_Esmeralda_from_Victor_Hugo_and_His_Time.jpg
La Esmeralda. Unbekannter Künstler, erschienen 1882 in „Victor Hugo and His Time“ von Alfred Barbou [Public domain], via Wikimedia Commons.
„Ihre Stimme hatte gleich ihrem Tanz und ihrer Schönheit einen unbeschreiblichen Zauber, etwas Reines, Klangvolles, Luftiges, Beflügeltes. Ihr Gesang war ein ununterbrochenes Klingen, eine Kette von Melodien, von plötzlichem Trillern, von getragenen Sätzen, die durch scharfe, pfeifende Töne unterbrochen wurden, von Sprüngen aus einer Tonart in die andre, die eine Nachtigall aus der Fassung gebracht hätten und die doch immer wieder in Harmonie ausklangen.“29

Im einsetzenden Zeitalter der Industrialisierung wurde auch die angebliche Naturverbundenheit der ‚Zigeuner‘ immer wichtiger, sie wurden zu einem Symbol von Wildnis und Freiheit.

Die ‚schöne Zigeunerin‘

Zur selben Zeit entstand eine Kunstfigur, die sich in Geschichten, Erzählungen und Filmen bis ins 20. Jahrhundert wieder findet: die ‚schöne Zigeunerin‘. Mit dem von den romantischen Schriftstellern positiv besetzten ‚Zigeunerbild‘ tritt die Figur der jungen und schönen ‚Zigeunerin‘ in vielen Werken als Titelheldin oder Hauptfigur auf, beispielsweise in Achim von Arnims Isabella von Ägypten30. Meistens wird sie als jung und grazil, dunkelhäutig mit schwarzen Augen und langem Haar und auffällig geschmückt beschrieben. Als exemplarisch kann Hugos Beschreibung der Esmeralda gelten: Ihre, also des Mädchens Augen waren

„schwarz und glänzend, von seinen schwarzen Haaren schimmerten einige in der Sonne wie Goldfäden. Seine Füße bewegten sich so flink wie die Speichen eines rollenden Rades. Um den Kopf, in den schwarzen Flechten hatte es Metallplättchen, die in der Sonne blitzten und um die Stirne eine Sternenkrone bildeten. Das mit Goldflittern bedeckte Kleid schimmerte blau, wie die mit tausend Sternen leuchtende Sommernacht. Die geschmeidigen braunen Arme bewegten sich graziös um die Taille. Die Form des Körpers war von entzückender Schönheit. O! das strahlende Gesicht, das sich wie etwas Leuchtendes selbst von dem Sonnenlichte abhob.“31

Beinahe überirdisch mutet diese Beschreibung der tanzenden Esmeralda an. Doch ihr Zauber und die Macht über ihre männlichen Betrachter verleihen der Schönen auch etwas Gefährliches: So fürchtet der sittenstrenge Erzdiakon Claude Frollo beim Anblick Esmeraldas eine Falle des Teufels, der ihn zur Sünde verleiten will. Das Begehren, das die ‚Zigeunerinnen‘ entfachen, ist nur schwer zu zügeln. Daher wird ihre Schönheit auch oft in den Bereich des Dämonischen oder Animalischen verwiesen, beispielsweise wenn sie als glutäugig oder mit glänzenden Zähnen beschrieben werden. Ein weiteres Attribut der ‚Zigeunerinnen‘ enthält eine erotische Aufladung: ihre Barfüßigkeit. Der entblößte Fuß kann verstanden werden als Symbol für Armut und Wanderschaft, aber in seiner Nacktheit auch als verführerischer Gegenstand.32 Dabei sind viele der ‚schönen Zigeunerinnen‘, denen man in der Literatur begegnet, kaum älter als 16 Jahre.33 Manche von ihnen sind nicht einmal ‚echte Zigeunerinnen‘, sondern stammen von inem adeligen Elternteil ab, wurden als Kind von ‚Zigeunern‘ geraubt und wuchsen bei ihnen auf.34

Ludwig Emil Grimm [Public domain], via Wikimedia Commons; Alte Zigeunerin beim Handlesen, 1826. http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/9/9a/Die_alte_Zigeunerin_Lore_aus_Ungedanken_liest_einem_M%C3%A4dchen_aus_der_Hand.jpg
Ludwig Emil Grimm [Public domain], via Wikimedia Commons; Alte Zigeunerin beim Handlesen, 1826.
Begleitet wird die schöne, junge ‚Zigeunerin‘ häufig von ihrem Gegenstück, der alten ‚Zigeunerhexe‘35. Diese ist gewöhnlich eine ‚echte Zigeunerin‘ und in ihrer Häßlichkeit, Bosheit und Tücke kaum zu übertreffen. Mit ihrem Alter und ihrem verfallenen Äußeren stellt sie die Zukunft der Jungen dar. Im Gegensatz zu dieser ist die Alte jedoch durchtrieben und gierig und tritt häufig als Diebin, Kupplerin und Wahrsagerin in Erscheinung. Beide Frauenfiguren werden also als dämonenhaft dargestellt: Die Junge erscheint als zauberhafte Verführerin, die Alte als böse Hexe.

Literatur

  • Bogdal, Klaus Michael, Europa erfindet die Zigeuner. Eine Geschichte von Faszination und Verachtung, Berlin, 2011.
  • Brittnacher, Hans Richard, Leben auf der Grenze. Klischee und Faszination des Zigeunerbildes in Literatur und Kunst, Göttingen, 2012.
  • Kugler, Stefani, Kunst-Zigeuner. Konstruktionen des ‚Zigeuners‘ in der deutschen Literatur der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Trier, 2004.
  • Solms, Wilhelm, Zigeunerbilder. Ein dunkles Kapitel der deutschen Literaturgeschichte. Von der frühen Neuzeit bis zur Romantik, Würzburg, 2008.

Quellen

  • Grellmann, Heinrich Moritz Gottlieb, Die Zigeuner. Ein historischer Versuch über die Lebensart und Verfassung, Sitten und Schicksale dieses Volks in Europa nebst ihrem Ursprunge, Dessau und Leipzig, 1783, URL: http://books.google.ch/books?id=wtRRAAAAcAAJ&pg=PP7#v=onepage&q&f=false, aufgerufen am 10.04.2015.
  • Grimmelshausen, Hans Jakob Christoffel von,Trutz Simplex: Oder Ausführliche und wunderseltzame Lebensbeschreibung Der Ertzbetrügerin und Landstörtzerin Courasche/ Wie sie anfangs eine Rittmeisterin/ hernach eine Hauptmännin/ ferner eine Leutenantin/ bald eine Marcketenterin/ Mußquetirerin/ und letzlich eine Ziegeunerin abgegeben, Nürnberg, 1670, URL: http://www.deutschestextarchiv.de/book/show/grimmelshausen_trutzsimplex_1670, aufgerufen am 07.04.2015.
  • Gronemeyer, Reimer, Zigeuner im Spiegel früher Chroniken und Abhandlungen. Quellen vom 15. bis zum 18. Jahrhundert, Gießen, 1987.
  • Hugo, Victor, Der Glöckner von Notre-Dame, Frankfurt a. M. 2001.
  • Rüdiger, Johann Christian Christoph, Von der Sprache und Herkunft der Zigeuner aus Indien, in: Ders., Neuester Zuwachs der teutschen, fremden und allgemeinen Sprachkunde: in eigenen Aufsätzen, Bücheranzeigen und Nachrichten, Bd. 1, Leipzig, 1782, S. 37, URL: http://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb10583110_00046.html?contextType=scan&contextSort=score%2Cdescending&contextRows=10&context=zigeuner, aufgerufen am 11.04.2015.

Weiterführende Literaturhinweise

  • Benz, Wolfgang, Sinti und Roma: Die unerwünschte Minderheit. Über das Vorurteil Antiziganismus, Berlin, 2014.
  • Breger, Claudia, Ortlosigkeit des Fremden: „Zigeunerinnen“ und „Zigeuner“ in der deutschsprachigen Literatur um 1800, Köln u. A., 1998.

Anmerkungen

  1. Johannes Stumpf (1500 bis circa 1576) bezeichnet sie in seiner Schweytzer Chronik von 1538 als „menigklichen seltzam“, Aegidius Tschudi (1505 bis 1572) im Chronicon Helveticum als „ein wunderbarlich volck das vorhin ze Land nie mer gesehen was“, Zitat nach Gronemeyer, Reimer, Zigeuner im Spiegel früher Chroniken und Abhandlungen. Quellen vom 15. bis zum 18. Jahrhundert, Gießen, 1987, S. 34 und 36. Vgl. auch Solms, Wilhelm, Zigeunerbilder. Ein dunkles Kapitel der deutschen Literaturgeschichte. Von der frühen Neuzeit bis zur Romantik, Würzburg, 2008, S. 19  (zurück)
  2. Vgl. Bogdal, Klaus Michael, Europa erfindet die Zigeuner. Eine Geschichte von Faszination und Verachtung, Berlin, 2011, S. 24.  (zurück)
  3. Vgl. ebd., S. 26.  (zurück)
  4. Andreas Presbyter von Regensburg (circa 1380 bis 1438), Diarium Sexennale, Zitat nach: Gronemeyer, Zigeuner, S. 20.  (zurück)
  5. Johannes Stumpf, Schweytzer Chronick, 1538, Zitat nach Gronemeyer, Zigeuner, S. 32.  (zurück)
  6. Vgl. Kugler, Stefani, Kunst-Zigeuner. Konstruktionen des ‚Zigeuners‘ in der deutschen Literatur der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Trier, 2004, S. 22 f.  (zurück)
  7. z.B. bei Andreas von Regensburg: „Im Volk wurde jedoch gesagt, dass sie heimlich Kundschafter im Land seien“, Zitat nach Gronemeyer, Zigeuner, S 20. Johann Hartlieb schreibt in seinem Buch aller verbotenen Kunst, unglaubens und der zauberei von 1455: „Die treiben die kunst gar vast und verführen manich ainfalticlichen menschen“, Zitat nach Solms, Zigeunerbilder, S. 26.  (zurück)
  8. Vgl. Bogdal, Europa, S. 72 f.  (zurück)
  9. Vgl. Solms, Zigeunerbilder, S. 26.  (zurück)
  10. Hermann Cornerus (gest. circa 1438), Chronikon, 1435, Zitat nach Gronemeyer, Zigeuner, S. 15.  (zurück)
  11. Vgl. Kugler, Kunst-Zigeuner, S. 23.  (zurück)
  12. Vgl. Solms, Zigeunerbilder, S. 26.  (zurück)
  13. Aventinus (1477 bis 1534), Annales Boiorum, 1522, Zitat nach Gronemeyer, Zigeuner, S. 28.  (zurück)
  14. Kugler, Kunst-Zigeuner, S. 29.  (zurück)
  15. Zitat nach Solms, Zigeunerbilder, S. 39.  (zurück)
  16. Vgl. Solms, Zigeunerbilder, S. 39-41.  (zurück)
  17. Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen,Trutz Simplex: Oder Ausführliche und wunderseltzame Lebensbeschreibung Der Ertzbetrügerin und Landstörtzerin Courasche/ Wie sie anfangs eine Rittmeisterin/ hernach eine Hauptmännin/ ferner eine Leutenantin/ bald eine Marcketenterin/ Mußquetirerin/ und letzlich eine Ziegeunerin abgegeben, Nürnberg, 1670, URL: http://www.deutschestextarchiv.de/book/show/grimmelshausen_trutzsimplex_1670, aufgerufen am 07.04.2015.  (zurück)
  18. Vgl. Solms, Zigeunerbilder, S. 83.  (zurück)
  19. Vgl. ebd., S. 83 f.  (zurück)
  20. Rüdiger, Johann Christian Christoph, Von der Sprache und Herkunft der Zigeuner aus Indien, in: Ders., Neuester Zuwachs der teutschen, fremden und allgemeinen Sprachkunde: in eigenen Aufsätzen, Bücheranzeigen und Nachrichten, Bd. 1, Leipzig, 1782, S. 37, URL: http://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb10583110_00046.html?contextType=scan&contextSort=score%2Cdescending&contextRows=10&context=zigeuner, aufgerufen am 11.04.2015.  (zurück)
  21. Ebd., S. 44 f.  (zurück)
  22. Vgl. Solms, Zigeunerbilder, S. 118-120 und Kugler, Kunst-Zigeuner, S. 46-58.  (zurück)
  23. Grellmann, Heinrich Moritz Gottlieb, Die Zigeuner. Ein historischer Versuch über die Lebensart und Verfassung, Sitten und Schicksale dieses Volks in Europa nebst ihrem Ursprunge, Dessau und Leipzig, 1783, URL: http://books.google.ch/books?id=wtRRAAAAcAAJ&pg=PP7#v=onepage&q&f=false, aufgerufen am 10.04.2015.  (zurück)
  24. Ebd., S. 6.  (zurück)
  25. Kugler, Kunst-Zigeuner, S. 43.  (zurück)
  26. Grellmann, Die Zigeuner, S. 10 f.  (zurück)
  27. Vgl. Solms, Zigeunerbilder, S. 120-124 und Kugler, Kunst-Zigeuner, S. 58-89.  (zurück)
  28. Cervantes Saavedra, Miguel de, Novelas Ejemplares, Madrid, 1613.  (zurück)
  29. Hugo, Victor, Der Glöckner von Notre-Dame, Frankfurt a. M. 2001, S. 93, Zitat nach Bogdal, Europa, S. 196.  (zurück)
  30. Arnim, Achim von, Isabella von Ägypten, Kaiser Karl des Fünften erste Jugendliebe. Eine Erzählung, Stuttgart, 1986.  (zurück)
  31. Zitat nach Brittnacher, Hans Richard, Leben auf der Grenze. Klischee und Faszination des Zigeunerbildes in Literatur und Kunst, Göttingen, 2012, S. 96.  (zurück)
  32. Vgl ebd., S. 112.  (zurück)
  33. z.B. die Figur der Preciosa in Cervantes Das Zigeunermädchen, Mignon in Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre (in: Voßkamp Wilhelm, Jaumann, Herbert (Hrsg.), Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, Bd. I, 9, Frankfurt a. M., 1992) oder Emanuela in E.T.A. Hoffmanns Der Zusammenhang der Dinge (Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus, Die Serapionsbrüder. Gesammelte Erzählungen und Märchen, 2 Teile, Berlin, 1978), vgl. Brittnacher, Leben, S. 100.  (zurück)
  34. So z.B. in Clemens Brentanos Aloys und Imelde oder Märchen vom Murmeltier (in: Behrens, Jürgen u. A. (Hrsg.), Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe, Stuttgart, 1996) oder Achim von Arnims Isabella von Ägypten, vgl. Solms, Zigeunerbilder, S. 189.  (zurück)
  35. z.B. in Prosper Mérimées Carmen (Mérimée, Prosper, Carmen, Stuttgart, 1993) oder Clemens Brentanos Die mehreren Wehmüller und ungarischen Nationalgesichter (in: Siehe oben).  (zurück)

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