Was die Mehrheit über die Minderheit denkt

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Ein Gespräch mit dem Berliner Vorurteilsforscher Professor Wolfgang Benz

Prof. Dr. Wolfgang Benz. FOTO: Axel Hindemith Lizenz: Creative Commons CC-by-sa-3.0 de
Prof. Dr. Wolfgang Benz. Foto: Axel Hindemith
Lizenz: Creative Commons CC-by-sa-3.0 de

Der deutsche Historiker Professor Dr. Wolfgang Benz gilt als einer der wichtigsten Vertreter der Vorurteilsforschung. Bis 2011 lehrte er am Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin. Professor Benz geht der Frage nach, welche Einstellung die Mehrheitsgesellschaft gegenüber der Minderheit zum Ausdruck bringt. Seine Theorie beschreibt er in seinem jüngst erschienenen Buch „Sinti und Roma: die unerwünschte Minderheit. Über das Vorurteil Antiziganismus“ (Berlin 2014). Darin wird deutlich, dass Ressentiments innerhalb der Mehrheitsgesellschaft entstehen und auf die Minderheit übertragen werden. Im Gespräch legt Professor Benz häufig ironisch dar, was die Mehrheit über die Minderheit zu wissen glaubt.

Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes gab 2013 eine Studie in Auftrag, die erstmals Zahlen darüber veröffentlichte, welches Bild sich die Mehrheitsgesellschaft von der Minderheit der Sinti und Roma macht. Erstaunlich ist die Tatsache, wie wenig Wissen über die Verfolgung und den Völkermord an Sinti und Roma durch das nationalsozialistische Regime vorhanden ist. Die 25- bis 34-jährigen zeigen sich dabei als am schlechtesten informiert. 32 Prozent wissen nichts über die Verfolgung und Ermordung der Sinti und Roma während des Nationalsozialismus. Weder interessiert noch engagiert sich die Mehrheitsgesellschaft für die Minderheit.

Romantische Bilder wie die des „freiheitsdurstigen Nomaden“, des „musikalischen Zigeuners“ oder die Vorstellung von „tanzenden, sexualisierten Frauen in bunten Röcken“, sorgen ebenso wenig wie negative Bilder dafür, Klischees zu brechen. Es handelt sich dabei um ein bloßes „Zerrbild“ der Existenz der Roma, das dafür sorgt, Normalität genauso wie Hass auszublenden. Professor Benz plädiert dafür, sich von solchen Bildern freizumachen.

Ewig Wandernde oder Vertriebene?

Sinti und Roma werden als Exoten dargestellt, zumindest aber als ein Volk, das am Rande der Gesellschaft lebt: sie werden mit negativen oder positiven Zuschreibungen belastet – eine Normalität scheint es nicht zu geben. Genau diese „Abweichung von der Norm“ lässt sich angeblich nicht mit der Kultur der Mehrheitsgesellschaft verbinden, wie Professor Benz zugespitzt persifliert:

 „Sinti und Roma können nicht lesen und schreiben, sie haben keinen Zeitbegriff. Sie sind ein lebenslustiges Volk, das nur für den Augenblick lebt – und das konstituiert Eigenschaften, die Sinti und Roma für das Zusammenleben mit uns unbrauchbar machen. Wenn sie angeblich ein Nomadenvolk sind, dann haben sie in einer Dreizimmerwohnung im zweiten Stock nichts zu suchen, weil sie da sofort das Parkett rausreißen und Lagerfeuer machen. Das will man aber im Mietshaus nicht.“

Dieser Meinung entgegen zu wirken, hat sich Amaro Foro, eine Jugend-Organisation von Roma und Nicht-Roma in Berlin, zur Aufgabe gemacht. Sie dokumentiert antiziganistische Vorfälle und trägt zur öffentlichen Aufklärung bei, wie dieses Video, in dem es um eine wohnungssuchende Roma-Familie geht, eindrücklich zeigt. Dass Roma nicht sesshaft sind, ist eine von der Mehrheitsgesellschaft zugeschriebene ‚Charaktereigenschaft‘. Vertreibungen werden dabei ebenso ausgeblendet, wie die Tatsache dass Sinti und Roma kaum ein Land als ihre Heimat bezeichnen können – „Romanistan“ gibt es nicht –, und dass ihre Herkunftsländer sie meist abschieben wollen.

Nachwirkungen gefährlicher Kriminalpräventionen

Bei einer Rechtsextremismus-Studie der Universität Leipzig 2014 stimmten 55,9% der Aussage „Sinti und Roma neigen zur Kriminalität“ zu. Dies ist ein tief verwurzeltes Vorurteil, das während des Nationalsozialismus seinen Höhepunkt erreichte, danach aber kaum abgeklungen ist.

„Bei den Juden hat man erkannt, dass sie Opfer rassistischer Verfolgung waren und bei den Sinti und Roma – naja, aber das waren doch Kriminalpräventionen. Die musste man doch im Konzentrationslager aufbewahren, weil sie so viel stehlen und dort irgendwie erziehen und an unsere Normen gewöhnen. Also denen ist doch kein Unrecht geschehen – hat man sich ja so ungefähr bis Ende der siebziger Jahre Glauben gemacht. Und das wirkt schon nochmal längere Zeit nach.“

Die nationalsozialistische ‚Zigeunerpolizeistelle‘ in München, die maßgeblich an der Verfolgung beteiligt war, wurde nach 1945 in ‚Landfahrerzentrale‘ umbenannt und wurde zum Großteil mit gleichem Personal und gleichen Akten bis 1970 weitergeführt. Diese Praxis war möglich, weil die rassistischen Bilder über Sinti und Roma als gesellschaftlich anerkanntes Wissen etabliert waren und auch heute noch verbreitet sind. So kommt es vor, dass eine Besucherführerin in Auschwitz-Birkenau die Verfolgung der ‚Gypsy‘ damit begründet, dass diese nicht arbeiten wollten und deshalb für die nationalsozialistische Gesellschaft unbrauchbar waren – was eine unreflektierte Reproduktion von NS-Jargon offenlegt.

Alltagserfahrung – Medien – Realität

‚Gypsy‘-Bus: Klischee vom nicht sesshaften Nomaden. Foto: Natalie Maier
‚Gypsy‘-Bus: Klischee vom nicht sesshaften Nomaden. Foto: Natalie Maier

Der Zentralrat der Sinti und Roma kritisiert, dass Medien insbesondere bei Straftaten die Zugehörigkeit von Tatverdächtigen zur Kultur der Sinti und Roma nennen. Durch diese Nennung wird der Eindruck erweckt, die Eigenschaft der Minderheitenzugehörigkeit stehe in einem Sachbezug zu den berichteten Straftaten. Auch in der Berichterstattung über die sogenannte ‚Armutszuwanderung‘ findet eine solche Ethnisierung des Sozialen statt. Die Bezeichnungen ‚Armutszuwanderer‘ und ‚Roma‘ werden in der Berichterstattung der Medien häufig austauschbar verwendet. Und diese Unschärfe übernimmt auch die Bevölkerung.

 „Die Mehrheitsbevölkerung bekommt im Alltag kaum etwas von Sinti und Roma mit und sie denkt darüber eigentlich auch nicht nach – und wenn nimmt sie allenfalls Armutszuwanderer aus Bulgarien und Rumänien wahr. Von der Realität der Sinti und Roma in Deutschland kriegt der Normalbürger nichts mit, weil sie sich nicht outen, um der Diskriminierung zu entgehen. Weil ein Sinto ja seinen Job bei der Allianz-Versicherung in der Vorstandsetage nicht verlieren will.“

Verschiedene mediale Mechanismen reproduzieren meistens uralte antiziganistische Stereotype. Das ist leider häufig der Schwerpunkt antiziganistischer Darstellungen in den Medien. Die spärliche Alltagserfahrung, die der Bürger der Mehrheitsgesellschaft mit Sinti und Roma macht, bestätigt scheinbar, was die Medien berichten.

„Wenn man dann in Berlin in der U-Bahn auf bettelnde Kinder mit schwarzen Locken stößt, ist es völlig klar, da sind sie: die aggressiv bettelnden Roma-Kinder. Wenn die Roma-Musikband mit Trompete, Ziehharmonika, Verstärker und noch was Schlimmem in der U-Bahn-Linie Nummer 7 krach macht – das tut weh. Dann hat man die Bestätigung für seine Vorurteile scheinbar unmittelbar geliefert.“

Von kulturellem und religiösem Rassismus

Der Rassismus, der Sinti und Roma entgegen schlägt, gründet nicht auf Religion, sondern auf Kultur. Dies ist laut Professor Benz noch schwerer zu fassen als Ressentiments gegen Juden. Sinti und Roma sind mehrheitlich Christen, das Vorurteil gegen die Religion ist bei ihnen also nicht von Bedeutung. Was bleibt sind rassistische Vorbehalte, die Sinti und Roma negative Eigenschaften einschreiben: sie seien kriminell, unstet, normverweigernd, zivilisationsunfähig. Hinzu kommen neue Befunde wie die Plünderung des Sozialsystems.

Das Volk der Sinti und Roma kann keinen Staat nennen, der ihm den Rücken stärkt oder eine Stimme geben könnte. Für die Rechte der Juden setzt sich der Staat Israel ein. Professor Benz aber glaubt,

„dass das Fehlen einer Staatlichkeit nicht entscheidend ist. Dass Philosemitismus ein Teil der politischen Kultur dieses Landes ist, das wurde implementiert ehe es den Staat Israel gab. Das ist eher amerikanische Politik, die den Deutschen klar gemacht hat, dass sie wieder gut machen müssen, was sie angerichtet haben, weil sie sonst geächtet bleiben. Von sich aus ohne Druck wäre das natürlich nicht gegangen, weil man ja hätte sagen können, dass Krieg war und der Einzelne mit den nationalsozialistischen Verbrechen nichts zu tun hatte. Umso mehr konnte man das aber mit Sinti und Roma, weil die überhaupt keine Lobby haben.“

Positive und negative Stereotype und die Norm der Mehrheitsgesellschaft

Wie lässt sich das Verhältnis zwischen Mehrheits- und Minderheitsgesellschaft nun beschreiben? Vorurteile und Stereotype sind in der Kultur der Mehrheitsbevölkerung seit jeher weit verbreitet. Allermeist sind sie dafür verantwortlich, dass diskriminierende Handlungen entstehen. Der Großteil der Bevölkerung wächst mit diesen Vorurteilen auf, ohne je Sinti oder Roma kennen gelernt zu haben. Professor Benz merkt an, dass sich diese Vorurteile auch gar nicht bestätigen müssen, um anerkannt zu sein.

Laut Professor Werner Bergmann, der ebenfalls im Bereich der Vorurteilsforschung tätig ist, sind Vorurteile „stabile negative Einstellungen gegenüber Gruppen beziehungsweise Personen, die dieser Gruppe angehören. Vorurteile beruhen oftmals nicht auf eigenen Erfahrungen, sondern werden übernommen“. Sie können auch positiv sein, ob negativ oder positiv macht auf der Ebene der Sinnstruktur jedoch keinen Unterschied. Ob ein ‚Zigeuner‘ als ‚faul‘ und ‚arbeitsscheu‘ oder als ‚fröhlich in den Tag hineinlebend‘, ohne sich Sorgen um sein Auskommen zu machen, beschrieben wird, sagt in beiden Fällen aus, dass ‚Zigeuner‘ nicht der gängigen sozialen Norm der Gesellschaft entsprechen, also nicht fleißig und diszipliniert sind.

Wenn man dem Antiziganismus also auf den Grund gehen möchte, sollte man sich die Mehrheitsgesellschaft und ihre sozialen Normen anschauen. Ob Vorurteile und Stereotype irgendwann aus der Welt geräumt werden können, ist höchst zweifelhaft. Fragt man den Vorurteilsforscher Benz danach, wie gegen Vorurteile vorgegangen werden kann, so erhält man zur Antwort, dass er festgestellt habe, die letzten 25 Jahre doch ziemlich vergeblich gearbeitet zu haben – „denn es gibt nichts zählebigeres als ein Vorurteil.

Quellen:

  • Interview mit Prof. Dr. Wolfgang Benz vom 9. März 2015.
  • „Wie der Diskriminierung von Sinti und Roma begegnen?“ Vortrag und Podiumsgespräch in der Akademie des Jüdischen Museums Berlin vom 12. Februar 2015.
  • Infoabend Amaro Foro vom 22. Januar 2015.

Literatur:

  • Attia, Iman: Rassismus (nicht) beim Namen nennen. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung ‘Das Parlament’ vom 24. März 2014, 64. Jg. 13-14/2014, S. 8-14.
  • Benz, Wolfgang: Sinti und Roma: Die unerwünschte Minderheit. Über das Vorurteil Antiziganismus, Berlin 2014.
  • Bergmann, Werner: Was sind Vorurteile? In: Informationen zur politischen Bildung Nr. 271/2005, S. 4-6.
  • End, Markus: Bilder und Sinnstruktur des Antiziganismus. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung ‘Das Parlament’ vom 30. Mai 2011, 22-23/2011, S. 15-21.
  • End, Markus: Von Klischees und falschen Bildern. Eine Analyse: Wie berichten Medien über Sinti und Roma? (Bundeszentrale für Politische Bildung vom 24.04.2014), http://www.bpb.de/internationales/europa/sinti-und-roma-in-europa/179543/eine-analyse-wie-berichten-medien-ueber-sinti-und-roma?p=0 (abgerufen am 02.05.2015).
  • Mappes-Niediek, Norbert: Arme Roma, böse Zigeuner. Was an den Vorurteilen über die Zuwanderer stimmt, Bonn 2013.
  • Mihok, Brigitte: Zurück nach Nirgendwo. Bosnische Roma-Flüchtlinge in Berlin, Berlin 2001.
  • Weisz, Zoni: Ein immer noch vergessener Holocaust. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung ‘Das Parlament’ vom 30. Mai 2011, 22-23/2011, S. 3-8.
  • Migrationspolitisches Portal der Heinrich-Böll-Stiftung: „Dossier Perspektiven und Analysen von Sinti und Roma in Deutschland, URL: http://heimatkunde.boell.de/dossier-sinti-und-roma (abgerufen am 02.05.2015).

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